Vom Umgang mit der Corona-Krise: wie wir Risiken zu unserer Gesundheit bewerten

In der Corona-Krise sind viele von uns zu Hobby-Statistikern geworden: jeden Abend haben wir vor dem Fernseher die Entwicklung der Infektionszahlen verfolgt, haben über Wellenverläufe und R-Werte diskutiert. Einige von uns hatten nach einiger Zeit die vielen Sondersendungen zu dem Thema satt, die vielen Diskussions- und Expertenrunden.

Aber die starke Präsenz des Themas in den Medien war richtig. Sie hat uns verdeutlicht, dass uns das Thema alle angeht: jeden einzelnen Menschen, auf der ganzen Welt, alle 7,75 Milliarden.

Vielleicht erinnern Sie sich an die ersten Tage der Kontaktbeschränkungen: viele Menschen haben sich an die neuen Abstandsregelungen gehalten. Es gab aber immer wieder Bilder von Menschen, die sie missachtet haben. Oft waren es junge Menschen. Manche von ihnen empfanden die harten Maßnahmen als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit.

Als junger Mensch hat man noch das Gefühl, unverwundbar und unangreifbar zu sein. Das ändert sich im Laufe des Lebens. Mit zunehmendem Alter nehmen wir Risiken anders wahr: ältere Menschen sind weniger offen für Weltreisen, Abenteuerurlaub oder Experimente jedweder Art. Psychologisch gesehen nimmt die so genannte „Offenheit für neue Erfahrungen“ ab. Dabei handelt es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal, das beschreibt, wie sehr man es schätzt, neuartige Situationen aufzusuchen, zum Beispiel neue Speisen auszuprobieren oder ferne Länder zu bereisen. Auch die Freude, Risiken einzugehen, das so genannte „Sensation Seeking“, sinkt mit dem Alter. Man wird gewissenhafter, emotional stabiler und gesetzter. Und man erkennt, wie real die Bedrohungen des Alltags sind: der Nachbar erkrankt an Krebs, der Kollege hat einen Unfall im Straßenverkehr. Plötzlich spüren wir, dass wir sehr wohl verletzlich sind.

Die Einschätzung von (Lebens-)Risiken ist letztlich subjektiv. Wir über- und unterschätzen Risiken in Abhängigkeit von unserer eigenen Lebenswirklichkeit. Eine besondere Rolle spielt hierbei die so genannte „Verfügbarkeitsheuristik“. Angesichts dieses kognitiven Mechanismus war und ist die umfassende Berichterstattung über die Corona-Epidemie so wichtig. Die Heuristik besagt, dass uns Dinge, mit denen wir häufig konfrontiert werden, wahrscheinlicher vorkommen. Als vor einigen Jahren ein Attentäter in eine Menschenansammlung auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin fuhr, hatten viele Deutsche danach Angst, ebenfalls Opfer eines Anschlags zu werden.

Dabei war die Gefahr statistisch gesehen verschwindend gering. Trotzdem wurden vielerorts Pöller auf den Märkten aufgebaut, um mögliche fehlgeleitete LKW abzuhalten. Ursache für die Panik war die mediale Präsenz des Ereignisses. Was wir oft sehen, oft wahrnehmen, wird uns präsenter und im Denken „verfügbarer“. Daher unterschätzen wir auch die wahren Bedrohungen unserer Gesundheit. Die meisten Todesopfer in Deutschland fordern Krebserkrankungen, Brust- und Darmkrebs zum Beispiel ist sehr häufig. Auch das Risiko, im Straßenverkehr umzukommen ist hoch. Aber davon sehen und hören wir wenig. Haiattacken und Blitzschläge erscheinen uns plausibler. Gesundheitliche Risiken lassen sich meist verdrängen. Erst im hohen Alter werden sie präsenter, wenn man auf einmal selbst krank wird oder nahe Freunde und viele Gleichaltrige verliert. Plötzlich fühlt man sich selbst sehr verwundbar.

Wenn neben jungen Menschen auch ältere plötzlich die Corona-Abstandsregeln missachtet haben, liegt im Prinzip ein umgekehrter Effekt vor: sie haben verstanden, dass das eigene Leben endlich ist; und das wollen sie sich nicht durch ein Virus kaputtmachen lassen – einige Monate lang das Haus nicht mehr verlassen, die Enkel nicht sehen dürfen, keinen Kaffeeklatsch, keine Städtereise mit den Freundinnen? Plötzlich entsteht die Angst, man könnte Einiges versäumen. Diese erlebte Einschränkung der Freiheit, wird als „Reaktanz“ bezeichnet: nimmt man Menschen ihre Handlungsmöglichkeiten und Wahlfreiheiten, hat das oft eine Art Trotzreaktion zur Folge. Das hat nichts mit dem Alter zu tun, kann aber gefährlich werden, wie die Demonstrationen in den USA gezeigt haben, bei denen Bürger dicht gedrängt und ohne Schutzmaske gegen den Shutdown protestiert haben.

Leider ist die Gefahr durch Corona sehr real. Leicht lässt sich berechnen, wie viele Menschen versterben würden, wenn wir keine Kontaktbeschränkungen hätten. Dass es viele ältere Menschen treffen würde, macht die Sache nicht besser – oder ist das Leben eines 80-Jährigen, der einsam im Altenheim auf Besuch wartet, weniger wert als das des Jugendlichen, der sich unbekümmert mit Freunden im Park trifft? Letztlich ist es eine ethische Frage, die oft in dem so genannten „Gleis- oder Schienendilemma“ dargestellt wird: ein Zug ist entgleist. Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Weiche umstellen. Dadurch würde der Zug auf eine andere Strecke umgeleitet und nur einen Gleisarbeiter töten, anstelle der zehn, auf die der Zug aktuell zurast. Bei dieser Konstellation geben viele Befragte an, den Zug umzulenken.

Stellen Sie sich nun vor, der einzelne einsame Gleisarbeiter sei Ihr Vater, Bruder, Ehefrau, beste Freundin. Menschenleben gegeneinander aufzuwägen im Sinne der Triage wird es in Deutschland nicht geben. Und dass ist ein beruhigender Gedanke.

Wie sehr wir uns durch Corona bedroht fühlen, ist dennoch eine Frage der „subjektive Bedrohung“. Bis Menschen sich in ihrer Gesundheit bedroht fühlen, muss oft Einiges geschehen. Viele von uns verdrängen Gedanken an die eigene Sterblichkeit und Vulnerabilität. Niemand möchte sich mit diesen Dingen gerne auseinander setzen. So ist es kein Wunder, dass wir gut darin sind, unsere Verhaltensweisen zu rechtfertigen. Viele Menschen treiben zu wenig Sport, sind übergewichtig, ernähren sich ungesund, trinken zu viel Alkohol. Dem Gesundheitswesen durch diese Unvernunft jährlich Kosten in Milliardenhöhe. Aber wer Wein liebt, der glaubt gerne der Aussage, Rotwein fange freie Radikale ein und der leicht Übergewichtige freut sich, wenn zu lesen ist, fettiges Fleisch und Zucker zu essen sei nicht so ungesund wie Weizenbrot.

Tatsächlich widersprechen sich die Studien zur Frage was gesund ist und was nicht. Das ist das Wesen von Forschung. Wenn man es genau wüsste, müsste man es nicht weiter erforschen.

Dass Zucker gesundheitsschädigender ist als Fett, davon gehen wir heutzutage aus. Dass es umgekehrt ist, dachte man noch in den 50er Jahren. Der Mensch weiß nicht alles, deswegen gibt es Forschung. Der beste Psychologe, Statistiker, Anthropologe kann das Verhalten eines Menschen nicht voraussagen. Und das ist auch gut so. Wer wollte schon ausrechnen können, wann er z.B. stirbt? Das Leben ist voller Unsicherheit oder wie Eric Kästner sagte: Wirds schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich. Man sollte also nicht in Panik verfallen, aber auch nichts auf die leichte Schulter nehmen.

Im Rahmen des so genannten „Health-Belief-Modells“ geht man davon aus, dass Menschen gesundheitliche Risiken für sich subjektiv anhand von zwei Parametern bewerten, zum einen der Vulnerabilität, also der Annahme, wie gravierend eine Erkrankung (z.B. Covid-19) für einen wäre, zum anderen der subjektiven Bedrohung, also im Fall von Corona der Frage, wie hoch das Risiko ist, sich selbst anzustecken. Wenn ich zur Risikogruppe gehöre, habe ich natürlich mehr Angst, da die Folgen einer Infektion gravierend sein könnten (hohe Vulnerabilität).  

So lange es keinen Impfstoff gibt, würden ohne Sicherheitsvorkehrungen etwa 60 Prozent aller Deutschen – und Menschen weltweit – erkranken müssen, bis Herdenimmunität entsteht. Das ist die Statistik. Viele würden die Infektion vielleicht nicht bemerken oder mit einem Husten und Halsschmerzen davonkommen (faktische geringe Vulnerabilität). Wie viele Infizierte sterben würden, ist schwierig zu messen, da viele der bisher tödlich infizierten Betroffenen unter Vorerkrankungen litten. Aber ethisch gesehen ist jedes durch das Corona-Virus vorzeitig beendete Menschenleben eines zu viel.

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